Warum beim olympischen Sportklettern das Bewertungsystem versagte

Stellen Sie sich einen modernen Fünfkämpfer vor, der nicht reiten kann. Oder einen Zehnkämpfer, der noch nie beim Stabhochsprung antrat. Sollte ein Athlet mit massivsten Defiziten in einer Disziplin bei einem Kombinationswettkampf noch eine Chance auf das Treppchen oder gar Gold haben? Eher nicht. In Tokyo wurde durch ein unglückliches Bewertungssystem genau das beim olympischen Sportklettern gefördert.

Erstmals im olympischen Programm, mussten beim Sportklettern die drei Einzeldisziplinen Speed, Bouldering und Lead miteinander verheiratet werden. Das Bewertungssystem sah vor, dass die Platzierungen der drei Sportarten miteinander multipliziert werden: Erreicht man also den 3.Platz im Lead, den 12. Platz im Bouldern und den 8. Platz im Speedklettern, so erhält man 3*12*8 = 288 (Straf-)Punkte. Und je höher die Punktzahl umso schlechter fällt die Gesamtplatzierung aus.

Auf der ersten Blick ein simples System, gut verständlich und leicht vermittelbar. Leider hat diese Methode drei teilweise gravierende Schwachstellen:

  1. Die Differenzen in der Punktzahl stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Leistungsunterschieden.  
  2. Speed-Kletterer werden bevorzugt.
  3. „Spezialisten“ einer Disziplin werden bevorzugt.

Janja Garnbret erreichte in der Qualifikation als Gewinnerin 56, Shauna Coxsey (Platz 10) 832 Punkte. War Shauna jetzt 14x schlechter? (Abb.1) Anders als im Zehnkampf ist die Punktedifferenz zwischen den Athleten hier nicht interpretierbar. Ein Schönheitsfehler, der für sich allein leicht zu verzeihen wäre.

Gravierender ist die Neigung des Verfahrens, Spezialisten zu bevorzugen, also Athlet:innen, welche lediglich eine der drei Disziplinen beherrschen. Nehmen wir modellhaft an, es gäbe nur zwei Disziplinen: Bouldern und Speed. Zwei Athleten erhalten dabei folgenden Platzierungen:

  1. Typ Allrounder: Speed (10) x Bouldern (11) = 10×11 = 110 Punkte
  2. Typ Spezialist:    Speed (1) x Bouldern (20) = 1 x 20 = 20 Punkte

Typ Spezialist schneidet demnach 5,5x besser ab als Typ Allrounder! Die Multiplikation der Wertungen hat zur Folge, dass Athlet:innen mit mittleren Platzierungen weit mehr Strafpunkte erhalten (siehe Abbildung unten), als Athlet:innen die herausrragend in einer Disziplin aber Schlusslicht in einer anderen Disziplin sind.

Mit der Multiplikation der dritten Disziplin läuft die Systematik ins Absurde. Ein Rechenbeispiel:    

  1. Typ Allrounder: Speed (10) x Bouldern (11) x Lead (4) = 10*11*5 = 440 Punkte
  2. Typ Spezialist: Speed (1) x Bouldern (20) x Lead (20) = 1*20*20 = 400 Punkte

Der Spezialist erreicht mit einer Disziplin, bereits eine bessere Platzierung als der Allrounder!

Von Anfang an war allen Beteiligten klar, dass sich Speed-Klettern deutlich von Lead und Bouldern unterscheidet. Vielleicht entstand daher der Wunsch, Speedklettern in der Kalkulation etwas „aufzuwerten“?  Doch warum schnitten die Speed-Spezialisten durch das Ranking so gut ab? Abbildung 3 zeigt die Korrelationsmatrizen (nach Spearman) der Rankings für die drei Disziplinen der Männer (links) sowie Frauen (rechts). Je höher der Wert gegen 1 (blau), umso ähnlicher sind sich die Rankings in den Einzeldisziplinen. Eine „1“ in der Spalte Bouldern und der Zeile Lead würde bedeuten, dass die Platzierungen der Teilnehmer in den beiden Disziplinen exakt gleich sind. Liegt der Wert hingegen bei „-1“ (rot), wären die Platzierungen zweier Disziplinen spiegelverkehrt aufgebaut.

Athlet:innen, die eher im Lead und Bouldern zu Hause sind, stehen sich aufgrund der großen Ähnlichkeit der Disziplinen auf den Füßen und streiten sich um die Top-Platzierungen in ihren Primärdisziplinen.

Geht es besser?

Ja! Eine schlichte Aufsummierung, statt Multiplikation der Platzierungen in den drei Disziplinen hätte bereits die Problematik entschärft. Das wären die Final-Rankings für Männer und Frauen gewesen: (Entschuldigt die Formatierung)

Glückwunsch Tomoa Narasaki zu Gold! Es folgen gleich sechs zweite Plätze mit Silber. Bei den Frauen bleibt es eindeutig: Janja gewinnt. Übrigens: Jan Hoyer wäre nach dieser Systematik auf Platz 8 und damit für das Finale qualifiziert gewesen.

Unabhängig der Regularien waren es herausragende Wettkämpfe. In Paris kann das Bewertungssystem glücklicherweise eingestampft werden und jede Disziplin erhält zu Recht Ihre eigene Bühne!

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